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Kontakt: info@schachmuseum.com

Zyklopen, Elefanten und Türme im Schachspiel
Marcus Hieronymus Vida und die Erfindung des Schach-Turms

von Hans Holländer

Bild
Marcus Hieronymus Vida galt als einer der besten Lateinkenner seiner Zeit. 1510 kam er nach Rom, wo er von den großen Renaissance-Päpsten Julius II., Leo X. und Clemens VII. begünstigt und gefördert wurde. 1532 wurde er zum Bischof von Alba bei Turin ernannt. In den Jahren 1510 bis 1527 verfaßte er Scacchia Ludus, sein Epos über das Schachspiel. Er publizierte das Werk gemeinsam mit seiner Ars Poetica 1527 in Rom.(1) Ein Raubdruck war bereits 1525/6 in Lyon erschienen, daher beeilte sich Vida wahrscheinlich mit der autorisierten Publikation. Das Schachepos wurde sehr bald in zahlreichen Nachdrucken und Übersetzungen verbreitet. Es war eines der erfolgreichsten Bücher des 16. Jahrhunderts. Seine Bedeutung für die Geschichte des Schachspiels ist offenkundig, denn es bekräftigt den Rang dieses Spiels. Auch ist bemerkenswert, dass Vida die anlässlich der Hochzeit von Oceanus und Thetis im fernen Äthiopen versammelten Götter nach den neuen Schachregeln spielen lässt, die erst seit wenigen Jahrzehnten in Gebrauch waren und das mittelalterliche Schach weitgehend verdrängt hatten.




Der Turm erscheint im Schach

Und schließlich verdanken wir Vida die Einführung des „Turmes“ in das Schachspiel. Jedem Schachspieler ist diese Figur so gewohnt, dass er sich vermutlich gar nicht mehr fragt, was eine so statische Form in seinem so dynamischen Spiel überhaupt zu suchen hat. Tatsächlich hat Vida auch nicht an etwas „Festgemauertes“ gedacht, sondern an eine Figur, die sich in einer höchst dynamischen, fiktiven Beschreibung einer auf dem Schachfeld tobenden Schlacht verwenden ließ. Mit seinem ersten Satz: Ludimus effigiem belli gibt er zu verstehen, daß er seine Schachpartie zwischen Apollo und Merkur als ein Bild des Krieges, als ein imaginäres Schlachtengemälde sieht, und das Epos nach dem Muster einer Ekphrasis konzipiert ist. Bei dieser in der antiken Rhetorik entwickelten Methode der Gemäldebeschreibung kommt es vor allem darauf an, den Eindruck von Lebendigkeit zu erzeugen. Alle Figuren seiner Schachpartie mussten also lebendig wirkende Akteure sein. Ausgerechnet in den Eckpositionen fand er aber eine Figur vor, die für seine Beschreibung ganz unbrauchbar war. Zwar zog dieser Roch oder Rochen genau so wie unser „Turm“, aber es war längst vergessen, was er einst, in der Entstehungsphase des Schachspiels, bedeutet hatte.  Wir wissen jetzt, dass das Wort „Roch“ wahrscheinlich persischen Ursprungs ist und eine an den Flanken aufgestellte kriegerische Figur meinte. Im späten Mittelalter hatte sich seine Gestalt in ein ornamentales Gebilde verwandelt, ein symmetrisches Ornament mit bizarren Konturen etwa in der Art von Doppeladlern, gekreuzten Hellebarden oder Doppelköpfen, aber ohne Hinweis auf eine mögliche Verwandlung in eine abbildliche Figur. In einigen abbildlichen Figurensätzen des Mittelalters stellte man ihn sich als Wächter oder als Wagenlenker vor, aber nie als Turm. Vida konnte mit dem Roch jedenfalls nichts anfangen, er brauchte eine „lebendig agierende“, sozusagen „kriegstaugliche“ Gestalt und entschied sich zunächst für den Zyklopen.
 Vida und Colonna

Es wird wohl zu Recht angenommen, daß er dazu von den „Burgwächtern“ (custodi dell’ arce) der Hypnerotomachia Polifili des Francesco Colonna angeregt wurde,(2) deren Text, wohl bereits 1469 abgeschlossen, 1499 bei Aldus Manutius in Venedig erschien. Damals waren die mittelalterlichen Schachregeln noch allgemein gebräuchlich. Nach ihnen richtet sich daher das „Lebende Schach“, das in dem „Traumliebeskampf“ ausführlich beschrieben wird.(3) Als das Werk erschien, gab es zwar, seit wenigen Jahren, die neuen, „modernen“ Schachregeln mit der Langschrittigkeit von Dame und Läufer, doch die älteren Regeln waren hier noch nicht außer Sicht geraten.
So verschieden wie die alten und neuen Formen des Schachspiels sind auch die literarischen „Überspiele“ von Colonna und Vida voneinander. Zum alten Schach passte die ballettartige kunstvolle Inszenierung, der Tanz, die abgemessene Bewegung, die Konsonanz, Harmonie und Symmetrie. Die Akteure verhalten sich wie Artisten, sie sind Tänzerinnen, und Musik begleitet das Spiel. Die Bewegungen auf dem Spielfeld, dem Boden eines Saales, korrespondieren nicht nur der Musik, sondern ebenso der Architektur, den Farben der Dinge und Gewänder und dem Lauf der Gestirne. Polifilo ergreift in diesem universalen Zusammenklang ein tiefes Entzücken, er glaubt, sich im Olymp zu befinden.
Vida's Epos ist in allem das Gegenteil. Zwar geht dem Spiel wie in der Hypnerotomachia ein Festmahl voraus,(4) doch die danach folgende Schachpartie ist der Zweikampf zweier Götter, ein Turnier, fast ein Duell, und auf dem Brett spielt sich kein Ballett ab. Von Musik ist nirgends die Rede, von Harmonie auch nicht. Was geschieht, ist eine blutige Schlacht. Die geschlagenen Kämpfer werden nicht mit einem Kuss verabschiedet, sie werden betrauert und abgeräumt. Zorn und Entsetzen, Mut und Verzweiflung ergreift die überlebenden Akteure. Aber auch Vidas Spiel ist „lebendes Schach“, denn er beschreibt, wie die Figuren „aus Buchsbaum“ zum Leben erwachen, sobald sie auf das Brett gestellt werden, und wie begierig sie sind, das Gefecht zu beginnen.
So gegensätzlich die Vorstellungen vom Schachspiel bei Colonna und Vida auch sind: In einer Beziehung hatten sie dasselbe Problem. Sie benötigten lebende Akteure, denen bestimmte Funktionen zugeteilt werden konnten. Colonna setzte daher an die Stelle der Rochen Burgwächter. Bei Vida werden daraus zunächst Zyklopen, denn er legte Wert auf Annäherungen an antike Mythologie. Die Zyklopen waren wegen ihrer ungeheuren Stärke und Kampfkraft geeignet, aber waren es diese Eigenschaften allein, die Vida schließlich dazu führten, sich statt ihrer für Elefanten in der Eckposition zu entscheiden?
Der Elefant als Eckstein

Weder konnte die alte arabische Tradition auf diese Entscheidung Einfluss haben, denn dort stand der Elefant in der Position des Läufers, noch hat die spätere indische Tradition, den König und seinen Minister auf Elefanten reiten zu lassen, eine Rolle gespielt. Auch in der „Hypnerotomachia“ gibt es einen Elefanten, allerdings hat er nichts mit dem Schachspiel zu tun. Er trägt einen Obelisken, ein Monument, das für die vier Weltrichtungen und für altägyptisches Weisheit steht. Das kann für die allegorisch funktionierende Phantasie Vidas interessant gewesen sein, weil ihm die Bedeutung des Schachbretts als Weltgeviert vertraut war. Zum Schachelefanten führte dieses Monument schwer enträtselbarer ältester Weisheit aber wohl nicht.

Auch die nicht sehr häufigen Darstellungen von turmbewehrten Kriegselefanten dürften kaum mehr als beiläufige Kenntnis gewesen sein, die jeder hatte. Mit dem Schachspiel wurden sie vor Vida nicht in Verbindung gebracht. So gab es Illustrationen zu Livius, zum Makkabäerkrieg und zum Alexanderroman mit Darstellungen türmetragender Kriegselefanten. Auch sonst begegnen sie in mittelalterlicher Kunst als „Mirabilia“ aus fernen Gegenden. Ein bekanntes Blatt Martin Schongauers stellt einen derartigen Koloss dar, und in einem Stich von Allart du Hameel, der kurz nach 1500 entstanden und in mehreren Varianten bekannt ist, (5) befindet sich das Ungetüm inmitten einer Schlacht mit Monstren und Bösewichtern aus den Höllen des Hieronymus Bosch, mit dem der Meister wohl bekannt, vielleicht befreundet war. Das Repertoire also war in Texten und Bildern vorhanden. Es konnte aktiviert werden. Die Frage ist, wie diese Tradition in das Schachspiel geriet.Der große Elefantenboom, eine wundersame Vermehrung allegorischer Elefanten, begann übrigens erst nach Vidas Scacchia Ludus und zwar auffällig bald nach seinem Erscheinen. Wie aber kam Vida zum Elefanten, und was geschah danach?
Das Geschenk der Portugiesen

Philologische Kenntnisse und gelehrte Lektüre sind selten allein ausschlaggebend für neue Kombinationen. Meist werden sie aus ihrem statischen in einen dynamischen Zustand durch Ereignisse versetzt, die eine neue Erfahrung bedeuten. Was hier die alten Kohlen zum Glühen brachte, die Richtigkeit des Gelesenen bestätigte und eine neue Idee auslöste, kann sich nur in Rom abgespielt haben, und das bedeutet, im Rom Leos X., des schachfreundlichen Mäzens, der Vida zu seiner Karriere verhalf. Leo wurde 1513 zum Papst gekrönt. Gesandtschaften aus vielen Ländern kamen, um dem neuen Oberhaupt der Christenheit zu huldigen. Die portugiesische Gesandtschaft tat sich 1514 mit Ge­schenken besonders hervor. Sie brachte unter anderem einen gewaltigen indischen Elefanten. Portugal war damals durch seine überseeischen Eroberungen eines der reichsten Länder Europas. Dieser Elefant hieß Hanno. Er war sicherlich das gewichtigste unter allen Geschenken, und der Papst war nicht nur beeindruckt, vielmehr war ihm der kluge und türmetragende Koloss sofort sympathisch. Er sicherte ihm Wohnung, Personal und Pflege; Hanno war eine privilegierte Persönlichkeit. Raffael hat ihn porträtiert, leider ist das Porträt nicht erhalten, aber es gibt Nachzeichnungen. Auf Umzügen trug er den bemannten Turm. Bei einer derartigen Veranstaltung kam er 1516 ums Leben: er ging, durch Böllerschüsse erschreckt, durch und stürzte mitsamt dem Aufbau in den Tiber. Doch gibt es eine andere Version der Todesursache: Danach hatte man ihn am ganzen Körper vergoldet und seine Hautatmung blockiert. Das halten selbst Elefanten nicht aus. Indessen erinnert diese Variante an die späteren Verwandlungen des Elefanten in vergoldete Kunststücke der Kunst- und Wundersammlungen. Matthias Winner hat die Geschichte Hannos in einer ebenso subtilen wie ausführlichen Studie rekonstruiert. (6)

Hanno's  Nachwirkung

Die dreijährige Geschichte des ersten indischen Elefanten in Rom hat Vida miterlebt. Er war, wie der Elefant, ein Günstling des Papstes. Jetzt wusste er also, wie ein Elefant aussieht, was er alles kann und was ihn schon in alter Zeit zu einer mythischen Figur prädestinierte. Ich nehme an, dass der eigentliche Auslöser der Idee Vidas, an die Stelle der Burgwächter oder der Zyklopen den turmtragenden Elefanten zu setzen, Hanno war. Er war eine neue Wirklichkeit, die zugleich mit den alten Überlie­ferungen übereinstimmte und sie dadurch in Bewegung brachte.
Es ist nun auch klar, warum er in seinem Epos von „indischen Elefanten“ spricht, obgleich ihm die afrikanischen Hannibal's durch seine Livius-Lektüre näher standen. Zwar waren ihm auch die indischen Elefanten im Heer des Porus, den Alexander besiegte, bekannt, tatsächlich aber hat er sich nicht zwischen Livius- und Alexandersage entschieden. An Elefanten dachte er offensichtlich zunächst gar nicht. Er wählte ja die Zyklopen. Erst Hanno dürfte seine literarische Elefantenkenntnnis in Bewegung gebracht haben. Die Textänderung – statt der Zyklopen nun die Kriegselefanten – fällt in die Zeit nach dem Auftreten Hannos in den Ställen des Vatikan. Bis zur dritten Fassung, die gegen 1513 datiert wird, hatte Vida an den Zyklopen festgehalten. 1514-1516 konnte Hanno in Rom besichtigt werden, in der vierten, lange zurückgehaltenen Fassung, tritt der Turm-Elefant an die Stelle des Zyklopen. Die Daten passen zusammen und sprechen für Hanno als Auslöser seiner schachgeschichtlich so bedeutenden Neuerung. Hannos Name zwar spielt auf Karthago an, aber er stammte aus Indien, also sind Vidas Elefanten Inder: „nec deest quae ferat armatas in proelia turres Bellua. Utrimque Indos credas spectare elephantes“ (in der Übersetzung von J.I. Hoffmann: Kraftvoll ziehen zur Schlacht die mit Türmen belasteten Tiere, gleich Elefanten gebaut, den im Lande der Inder erzeugten). (7)
Es wäre natürlich völlig abwegig, die immerhin bemerkenswerte Vermehrung bedeutungsschwerer Kriegselefanten oder Turmträger im 16. Jahrhundert allein auf Vida's Scacchia Ludus zurückzuführen. Aber er hat sicherlich seinen Anteil an dieser ikonographischen Merkwürdigkeit, denn viele kannten sein kleines Epos, und es waren Leute, die auch sonst an allegorischen Kombinationen und Spielen interessiert waren. Vida bildet sozusagen einen der möglichen Schnittpunkte mehrerer Gedankenketten, denn er hat unzweideutig und absichtsvoll diese literarisch-spielerischen Verkehrsknoten hergestellt. Danach verzweigen sich die Wege und gehen auseinander. Aber die ikonologische Vermehrung und Bedeutungssteigerung des Elefanten nimmt zu. Erfolgreiche Bücher von damals sind oft vergessen, aber zu ihrer Zeit gehörten sie zu den Dingen, die man kennen musste und mit denen etwas anzufangen war. Merkwürdigerweise hat der sonst sehr auf literarische Quellen bedachte Erwin Panofsky in seiner Diskussion der Galerie von Fontainebleau Vida nicht bemerkt (8) Und vielleicht hat auch die Gestalt des turmtragenden Elefanten im Park von Bomarzo mit der von Vida ausgelösten Genealogie des Schachelefanten zu tun. In der großen Bomarzo-Arbeit von Horst Bredekamp wäre Vida wahrscheinlich widerspruchsfrei zitierbar gewesen.(9) Ein gewaltiger Elefant, der unter der Last ornamentaler Motive fast zusammenbricht, steht in der Architectura des Wendel Dietterlin und ist dort eines der vielen architektonischen Gedankenspiele dieses Meisters, die längst eine ausführlichere Analyse verdient hätten.
Elephant und Obelisk

William Heckscher
hat am Beispiel von Bernini's obeliskentragendem Elefanten gezeigt, welche Quellen und Bedeutungsgeschichten hinter dieser merkwürdigen Konstruktion nachweisbar sind und wie sie sich gegenseitig stützen oder relativieren.(10) Sein Aufsatz handelt mehr von Elefanten als von Bernini's Obelisken. Natürlich erwähnt er auch Schachelefanten, freilich nur in einer Anmerkung und ohne genaue Kenntnis der schachhistorischen Literatur. Das ist umso erstaunlicher, als er die kunsthistorische Literatur – und die elefantenkundliche – mit einer erstaunlichen Breite präsent hat. So ist ihm also der Marco Girolamo Vida entgangen, obgleich er sonst die humanistische Literatur nicht ignoriert hat. Für seine Elephantographie hätte Vida ihm nützlich sein können, mit oder ohne Schachspiel. So gibt es eine bemerkenswerte Parallele: Gian Lorenzo Bernini hatte um 1630 in Rom einen Elefanten gesehen und, angeregt durch die Hypnerotomachia, einen Obelisken daraufgesetzt, freilich nur als zeichnerische Ideenskizze. Sein Elefanten-Obelisk auf der Piazza S. Maria della Minerva wurde erst drei Jahrzehnte später realisiert. Die Idee hatte Papst Alexander VII. eingeleuchtet. Wieder war ein richtiger Elefant, ein Papst und die Hypnerotomachia „im Spiel“. Heckscher schreibt sogar, dass nach über hundert Jahren wieder ein Elefant in Rom zu besichtigen war, der Bernini von der architektonischen und plastischen Qualität dieser Kolosse überzeugte. Der Vorgänger Hanno muss für Vida eine ähnliche Überzeugungskraft gehabt haben. Wie Bernini benötigte Vida Jahre, bis er diesen Eindruck artistisch verwenden konnte, was ihnen dann aber auch auf ebenso überzeugende wie folgenreiche Weise gelang.
Diese Parallelität ist nur eine Randpointe und eine Fußnote, aber da auch die Komponenten dieser Erfindungen übereinstimmen (die Hypnerotomachia, die Präsenz eines einfallsreichen Papstes und der „real existierende Elefant“), wird sich vielleicht doch eine Schlußfolgerung nicht als völlig unsinnig erweisen, die einen nicht zufälligen Zusammenhang zwischen den beiden um ein Jahrhundert gegeneinander verschobenen Ereignisfolgen behauptet. Ganz vorsichtig formuliert könnte sie so aussehen: In beiden Fällen gab es einige gleiche und einige ähnliche Elemente der Kombination, nur die Bildtradition war unterschiedlich: Bei Vida war sie noch dürftig, bei Bernini war sie außerordentlich mannigfaltig, voll ausgebildet und ihrem Ende schon nahe. Bernini setzt den Endpunkt unter die Geschichte.
 Elephanten in der Kunstkammer

Die Elefanten werden Spielfiguren in allegorischen Systemen, die ihre Bedeutung aus dem Kontext gewinnen und an ihn auch wieder abgeben. Zu ihren Lasten, die sie auf ihren breiten Rücken tragen, gehört sehr viel Geschichte, Mythologie und Naturgeschichte, sowie ein Gewirr einander ausschließender Bedeutungen, denn der Elefant gilt als weise und stark, aber auch wegen seiner Stärke als schwer bezwingbare Waffe im Kampf. Er kommt aus fernen Ländern, ist Inder oder Afrikaner, daher kann er die alte Weisheit der Ägypter ebenso tragen wie die Kampftürme des Porus. Zu den Ursachen seiner Aktualität im 16. und 17. Jahrhundert gehört sicherlich die Schachallegorie Vidas. Man sieht, wie die Sachen ineinandergleiten und miteinander zusammenhängen und literarische, künstlerischen und politische Inspirationsquellen einander bekräftigen und herausfordern.
Wie sich die Phantasie des turmtragenden Kolosses bemächtigt, zeigt sich bald in den Wundergebilden der Goldschmiede und Elfenbeinschnitzer. Im 16. und 17. Jahrhundert trug er nicht nur Wehrtürme, sondern auch Uhren, Schiffe und komplizierte Drechselarbeiten in Elfenbein, die schon fast wieder wie Schachfiguren aussehen.
In Schachspielen ist der Elefant als Turmträger selten gewesen. Man spielte mit den alten Figuren weiter, nannte sie auch noch so wie früher. Vom Elefanten blieb der Turm als regelmäßig verwendete Figur. Der Kriegselefant kam vor allem in sehr kostbaren Spielen vor, etwa solchen, die auch in die Kunstkammern gelangten und dort in der Nachbarschaft anderer Kunst-Elefanten an der richtigen Stelle waren. (11)
Wenn seit dem 18. Jahrhundert chinesische Spiele für europäische Schachspieler hergestellt wurden, die regelmäßig den Elefanten als Turmträger haben, dann ist nicht einfach eine europäische Tradition in China aufgenommen und für den Export reproduziert worden. Vielmehr hat eine Selektion stattgefunden. Was in Europa selten war, wurde in China zur Regel. Man hat dort nach Büchern gearbeitet, die aus Europa importiert wurden. Die wichtigsten Vermittler dürften Jesuiten und Kaufleute gewesen sein. Eines der mitgebrachten Bücher, aus denen man ersehen konnte, wie in Europa Schachfiguren aussehen konnten, dürfte der Selenus gewesen sein, das Schachbuch des Herzog August von Braunschweig-Lüneburg, das unter dem Titel "Das Schach- oder König-Spiel" 1616 erschien. (12)  Der Schach-Elefant des Selenus wäre dann der Prototyp aller chinesischen Schach-Elefanten, und der chinesische Elefant für europäische Spiele stammte aus Europa. Doch war den chinesischen Schnitzern der Elefant als Bezeichnung eines Spielsteins im chinesischen Xingqi nicht unvertraut. Das verwendete Wort enthält im Chinesischen allerdings keinen „Turmbestandteil.“ (13)

(c) Barbara Holländer 2018
Anmerkungen

1)  Zu Vida vergl.: Mario A. di Cesare, Biblioteca Vidiana, A Bibliography of Mario Girolamo Vida, Florenz 1974; Mario di Cesare, The Game of Chess; Marco Girolamo Vida’ s Scacchia Ludus; with English Verse Translation and the Texts of Three Earlier Versions, Nieukoop 1975; Walther Ludwig (Hrsg.), Marcus Hieronymus Vida, Schachspiel der Götter, Scacchia Ludus. Mit der Übersetzung von Johann Joseph Ignatius Hoffmann, Zürich und München, 1979; Jacques Chomarat, Les Échecs d’ après Vida, in: Philippe Ariès et Jean-Claude Margolin (Hrsg.), Les Jeux à la Renaissance. Actes du XXIIIe colloqui international d’ études humanistes, Tours, Juillet 1980, Paris 1982; Mario di Cesare, The Scacchia Ludus of Marco Girolamo Vida, The Didactic Poem as Fictional Text, in: Stella P. Revard, Fidel Rädle, Mario di Cesare (Hrsg.), Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani, Binghampton, New York 1988; Reinhold F. Glei, Thomas Paulsen, “und sie spielt sich doch!” Zur Rekonstruierbarkeit der Schachpartie in Vidas ‘Scacchia Ludus’, in: Neulateinisches Jahrbuch – Journal of Neo-Latin Language and Literature 1, 1999, S. 65-97.

2) Antonius van der Linde, Geschichte und Literatur des Schachspiels, Berlin 1874. Reprint Zürich 1981, II. Band, S. 179-183; Tassilo von der Lasa, Zur Geschichte und Literatur des Schachspiels, Leipzig 1897. Reprint Leipzig 1976, S. 197-199; H.J.R. Murray, A History of Chess, Oxford 1913, S. 789-791.

3) Zum Schachspiel in der Hypnerotomachia Polifili vgl.: Barbara Holländer, Lebendes Schach in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Homo Ludens IV, München/Salzburg 1994, S. 125-135.

4) Vgl. dazu Edgar Wind, der anlässlich von Bellinis „Götterfest“ (um 1514, Washington, National Gallery) ebenso scharfsinnig wie ausführlich erörtert, was die Zusammenkünfte antiker Götter „zum Mahle“ in Oberitalien um 1500 bedeuten könnten: Edgar Wind, Bellini’ s Feast of the Gods, Cambridge (Mass.), 1948.

5) Zu diesem Stich: Gerd Unverfehrt, Hieronymus Bosch, Die Rezeption seiner Kunst im frühen 16. Jahrhundert, Berlin 1980, S. 241, Kat.Nr. 6.

6) Matthias Winner, Raffael malt einen Elefanten. Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, 11. Bd, 1963-65, S. 71-109; zu Hanno auch: Stephan Oettermann, Die Schaulust am Elefanten. Eine Elephantographia curiosa, Frankfurt a.M. 1982, S. 104-109.

7)  zitiert nach der Ausgabe von Walther Ludwig (Anm. 1), S. 27.

8) Erwin Panofsky, The Iconography of the Galerie François Ier at Fontainebleau, in: Gazette des Beaux Arts, 1958, zum Elefanten: III, S. 130-135.

 9) Horst Bredekamp, Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo, Worms 1985.

10) William S. Heckscher, Bernini’ s Elephant and Obelisk, in: The Art Bulletin 1947, Vol. XXIV, S. 155-182.

11) Vgl. Hans und Barbara Holländer, Die Renaissance des Elefanten, in: Wilfried Seipel, Spielwelten der Kunst – Kunstkammerspiele, Ausst.-Kat. Kunsthistorisches Museum Wien, Milano 1998, S. 125-137.

12)  Gustavus Selenus, Das Schach=oder Königspiel, Leipzig 1616, Reprint Zürich 1978.

13)  zu Vida im Netz: www.history.chess.free.fr/vida.htm 
        Elefanten als Läufer im indischen Schach: www.history.chess.free.fr/india.htm
        zum Turm auf dem Elefanten: sites.google.com/site/caroluschess/heraldy/elephant-and-castle

Bild
Hans Holländer, renommierter Kunsthistoriker und wohl der wichtigste Schachhistoriker unserer schnellebigen Zeit, ist vor knapp einem Jahr am 28. April in Berlin von uns gegangen. Seine immer interessanten Aufsätze über die offenbaren und unterschwelligen Beziehungen von Schach, Kunst und Welt  sind weit verstreut, doch immer wieder anregend und fasziniered. Dieser Aufsatz erschien erstmals in der "Festschrift für Götz Pochat zum 65. Geburtstag, Grazer Editionen, Bd.2, 2007.
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